Das Bobath-Konzept–Erfahrungen, Veränderungen und Zukunft Teil II

Im zweiten Teil unserer Reihe berichtet Elisabeth Eisenberger, Senior-Lehrtherapeutin über ihren Werdegang zur Bobath-Lehrtherapeutin und die Veränderungen im Konzept im Wandel der Zeit.

Elisabeth, wie kam es dazu, dass Du Bobath-Lehrtherapeutin geworden bist?

Erster Impuls

Ein Schlüsselerlebnis für meinen späteren Werdegang war aus heutiger Sicht mein Romanistik-Studium in München, mit dem ich unzufrieden war und bald merkte, dass es nichts für mich war. Ohne Wissen meiner Eltern habe ich einen Job im Hauspflegedienst der Stiftung Pfennigparade angenommen, zuerst nur tageweise, dann in Vollzeit. So kam es, dass das Studium immer mehr in den Hintergrund trat und ich fortan erwachsene Menschen mit Behinderung betreute. Die Arbeit mit den mir anvertrauten Personen ergab endlich einen Sinn und hat mir geholfen meine Unikarriere endgültig an den Nagel zu hängen. Ich bewarb mich für die Ausbildung zur Krankengymnastin. So hat alles begonnen.

Ausbildung und Berufseinstieg

Nachdem in Deutschland in den 1980er Jahren die Wartezeit für einen Bobathkurs mehr als 6 Jahre betrugen, bewarb ich mich in London direkt in „The Bobath Center“ und erhielt 1988 einen Kursplatz. Der Zufall wollte es, dass zu dieser Zeit im Klinikum Traunstein eine Kinderabteilung eröffnet wurde und sich mir die Möglichkeit bot, dort als „frisch gebackene“ Bobath-Therapeutin einzusteigen. Die Arbeit in der Neonatologie mit den Frühchen hat mich gleich fasziniert und ich konnte in dieser Zeit viele Erfahrungen mit den Frühchen und ihren Familien sammeln.

Als 1993 das SPZ ins Leben gerufen wurde, fiel mir der Abschied von der Klinik sehr schwer. Heute weiß ich, dass dies ein guter Schritt und die Basis für unser Bobath-Kurszentrum sowie meine Lehrtherapeuten-Tätigkeit gewesen ist.

Schwierigkeiten und Defizite

Im SPZ war ich mit der Nachbetreuung der zu früh geborenen Kinder und deren Familien betraut, auch wurde ich zunehmend mit schwerer betroffenen Kindern aus der Umgebung konfrontiert. Sehr schnell musste ich feststellen, dass mein Wissen noch nicht ausreichend war. Gelerntes war oft nicht erfolgreich und hat nicht immer zum Wohle des Kindes und der Familie beigetragen. Vor allem die Übungsbehandlungen auf dem Pezziball oder über der Rolle haben bei betroffenen Kindern nicht zu Fortschritten in Ihrem täglichen Leben geführt, im Gegenteil! Nach kurzer Zeit kam es häufig zu Abwehr und Desinteresse in den Therapiestunden. Ich war unzufrieden! Ich brauchte Anregungen!

Neue therapeutische Ideen

Über den Bobath-Arbeitskreis in München bekam ich Kontakt zu den dortigen Lehrtherapeutinnen, die ich vor ein paar Jahren bereits bei meinem Anerkennungspraktikum kennengelernt hatte. Ich begann mit Kindern und Eltern nach München in die Entwicklungsneurologie zu fahren, um dort neue therapeutische Ideen und Möglichkeiten mitzunehmen. Karen Bernard und später auch Anita Laage-Gaupp waren hier meine Bobath-Lehrmeisterinnen. Von ihnen habe ich viel über den wertschätzenden Umgang mit Kindern und Eltern gelernt, auch der Einsatz von alters- und kindgerechten Gegenständen in der Therapie hat hier seinen Anfang genommen. Die Kreativität von Karen und Anita sowohl in der Hilfsmittelversorgung als auch in der kindgerechten Gestaltung der Therapie hat mich sehr beeindruckt. So wollte auch ich mit den Kindern und Familien zusammenarbeiten.

Einstieg als Lehrtherapeutin

Von diesen Treffen kam ich immer mit neuen Ideen der Umfeldgestaltung oder Hilfsmittelversorgung für die mir anvertrauten Familien zurück, vor allem, da diese für alle Beteiligten meist gut im häuslichen Alltag umzusetzen waren.

Irgendwann in dieser Zeit hat sich bei mir der Gedanke entwickelt, auch Lehrtherapeutin werden zu wollen. Aber wie sollte das gehen? Ich lebte auf dem Land und war kein „Kind der Uni“.

Als von den Münchner Kolleginnen das Angebot kam, dort die Lehrtherapeuten-Ausbildung zu machen, entschied ich mich für diesen Weg. Ich konnte inzwischen auf 16 Jahre praktischer Erfahrung mit der Bobath Therapie zurückblicken und war davon überzeugt, dass dieses Konzept in seiner ganzheitlichen Sichtweise die bestmögliche Begleitung für Kinder mit zerebralen Bewegungsstörungen und deren Familien darstellt.

Orientierung an der Wissenschaft

Ich begann die Ausbildung zur Lehrtherapeutin in einer großen Umbruchszeit. Mir war sehr schnell bewusst, dass sich das Konzept unbedingt weiterentwickeln müsse, wenn es in der Therapiewelt weiter bestehen soll. Sehr schnell wurde ich Teil einer Lehrtherapeutinnen-Gruppe, die sich für eine an den Wissenschaften orientierte Erneuerung des Konzeptes eingesetzt und engagiert hat. Für mich hat sich hierbei ein Kreis geschlossen als ich im späten Alter von 50 Jahren doch noch einmal studiert habe und neben meiner langjährigen praktischen Arbeit einen näheren Bezug zu den Wissenschaften bekam. Dies ist bis heute ein sehr spannender Weg mit anhaltenden Lern- und Anpassungsprozessen auf der einen Seite, aber auch ein Weg mit großem persönlichem Einsatz.

Hat sich das Bobath-Konzept während deiner Zeit als Lehrtherapeutin verändert?

Aus heutiger Sicht empfinde ich es als einen Segen, dass ich meine Lehrtherapeutenausbildung in einem Team machen durfte, das sich schon längst auf den Weg gemacht hatte und die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse in ihre Lehrtätigkeit integriert hatte. Von den in München unterrichtenden Ärztinnen (Dr. Ohrt, Dr. Enders) habe ich die aktuellen Informationen zur kindlichen Entwicklung, Gehirnentwicklung, Neurophysiologie, Zerebralparese, zu motorischem Lernen und vielem mehr erfahren dürfen. Der Unterricht war auf höchstem Niveau, in England gab es das nicht im Ansatz.

Der Wandel im Bobath-Konzept

Für mich war der Wandel hin zu einem alltags- und handlungsorientiertem, an den neuen Erkenntnissen der Wissenschaft orientiertem Konzept daher besonders einschneidend, weil vieles für mich komplett neu war.

Anders als meine Lehrtherapeuten-Kolleginnen, die ihre Ausbildung in München gemacht hatten, wurde mir sehr stark bewusst, wie sehr sich hier in Teilen von Deutschland das Bobath-Konzept bereits verändert und sich von den Ursprüngen weiterentwickelt hatte.

Die Bedeutung der ICF im Bobath-Konzept

Als ich meinen zweiten Bobathkurs in München absolviert hatte, war die ICF zu dieser Zeit, 2004 bereits ein wesentlicher, nicht mehr wegzudenkender Bestandteil des Unterrichts und hat Befund, Zielformulierung, Behandlungsplanung und Therapeutisches Vorgehen grundlegend beeinflusst.

„Hands on – Hands off“

Ein großer Paradigmenwechsel im therapeutischen Vorgehen fand bereits in den ersten Jahren meiner Lehrausbildung statt, in der Entwicklung von häufigem „Hands on“ zu mehr „Hands off“, Fazilitieren mehr distal als proximal. Selbst initiierte Aktivitäten des Kindes aufzugreifen, seine Intentionen und Interessen zu beachten und es dabei zu unterstützen, eigene Strategien zur Selbstständigkeit zu entwickeln, waren für mich ein wichtiger Lernprozess in der Therapie von neurologisch beeinträchtigten Kindern. Wissenschaftliche Erkenntnisse zu Entwicklung (NGST, Hadders-Algra), zu Bewegung und Haltungskontrolle (Shumway-Cook and Woollacott) und neues Wissen zu motorischem Lernen (Wulf) haben zu dieser veränderten Sichtweise von Therapie beigetragen und die oben genannte Vorgehensweise bekräftigt.

„Environmental Enrichment“

Die Therapie in herausfordernden, für das Kind bedeutungsvollen, sich wiederholenden Alltagssituationen durchzuführen, wurde in diesen Jahren immer mehr zu einem Schwerpunkt in unseren Kursen.

Das kreative Gestalten der Therapiesituation, mit Einsatz von kind- und altersgerechten Gegenständen hatte ja schon immer einen großen Stellenwert im Bobath-Konzept.  Die Studien von Morgan und Dusing zu „Environmental Enrichment“ waren hier jedoch noch einmal eine Bestätigung, aber auch verstärkte Aufforderung dazu, die Therapie in einem anregenden Umfeld stattfinden zu lassen, in welchem das Kind ausprobieren und Erfahrungen sammeln kann. Morgan beschreibt, dass ein „enriched environment“ das Kind in allen Lernbereichen (sozial-emotional, kognitiv, kommunikativ, sensomotorisch) ansprechen sollte. Es macht mich glücklich, dass ein anregendes Umfeld mit Blick auf die Gesamtsituation des Kindes ja schon immer wesentlicher Bestandteil der Bobaththerapie war, die ich kannte. Wunderbar, dass es hierzu jetzt die entsprechende Forschung gibt!

Frühe Vertikalisierung

Kinder mit Zerebralparese, v.a. im Level III-V zu vertikalisieren und nicht abzuwarten bis sie es eigenständig lernen, wurde bereits im Bobathkurs in London Ende 1980 gelehrt. Auch dass das Stehen nicht statisch erfolgen sollte, habe ich bereits aus dieser Zeit für mich abgespeichert und verinnerlicht. Schon damals wurde betont, wie wichtig beim Stehen dabei ein „Mobile weight bearing“ sei. Viele Jahre gab es bei uns in Deutschland jedoch nur statische Stehständer, eine dynamische Belastung auf die unteren Extremitäten mit der Möglichkeit Gewichte zu verlagern war in diesen Stehhilfen nur in geringem Maße möglich. Auch wurden Kinder mit Zerebralparese, aber auch mit Hypotonie früher oft erst sehr spät, frühestens mit zwei Jahren vertikalisiert. Heute sagen uns die Studien von Paleg et al, dass wir die Kinder möglichst schon früher, um das erste Lebensjahr herum vertikalisieren sollten.

Die Studien zeigen uns, dass die frühe altersentsprechende Vertikalisierung positive Auswirkung auf die Haltungskontrolle, Vitalkapazitäten und Knochendichte hat. Die positive Auswirkung auf die sozial-emotionale und mentale Entwicklung zeigt uns unser Erfahrungswissen.

Dynamische Hilfsmittel wie die Hirschfeld-Stehschale oder die Verwendung von herkömmlichen Beinschienen zum Stehen waren hierbei eine große Hilfe. So konnten auch schwerer betroffene Kinder schon sehr früh in ihrem alltäglichen Umfeld in der Familie, im Kindergarten und in der Schule stehend teilhaben, zur Freude aller Beteiligten.

Blick auf die Familie

Obwohl die Familie im Bobath-Konzept schon von Beginn an einen großen Stellenwert eingenommen hat, wurde hier in den letzten Jahren der Fokus auf die Familien von beeinträchtigten Kindern noch einmal deutlich intensiviert und in den Vordergrund gestellt.

Besonders die Forschungsergebnisse von CanChild aus Kanada haben uns gezeigt, dass wir das Wohlbefinden, die Lebensqualität und die Autonomie der Familien und Angehörigen mehr in den Vordergrund stellen müssen. Von Hadders-Algra und COPCA wurden wir in den letzten Jahren noch einmal in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass die Rolle des Therapeuten/in die eines wertschätzenden, auf gleicher Höhe befindlichen Partners ist, der die Kompetenzen und Ressourcen der Familie sucht, erkennt, stärkt und mit seinem Fachwissen begleitet. Die bei COPCA gelernten Couching-Strategien habe ich als große Bereicherung für mein bisheriges therapeutisches Vorgehen erlebt. Anders als in den Studien zu COPCA dargestellt, habe ich COPCA aber nicht als Gegensatz zu meinem bisherigen Umgang mit den Eltern in der Bobath-Therapie erlebt, eher als wertvolle Ergänzung.

Bedeutung der F-Words

Für uns als Bobath-Therapeuten/innen waren die „F-Words“ aus Kanada ein weiterer großer Gewinn, einerseits Bestätigung unseres bisherigen Tuns, aber auch eine Aufforderung, den Alltag der Kinder und ihrer Familien noch besser in seiner Gesamtheit im Blick zu haben und in den Vordergrund zu rücken. Dass die Kinder Freude und Spaß in der Therapie haben sollten, ist – so denke ich – für uns alle schon immer ein Grundsatz in der Bobath-Therapie und unterscheidet uns seit jeher von manch anderen Therapieansätzen. Der Zukunft der Kinder, Freunden und der körperlichen Fitness noch mehr Beachtung zu schenken, waren für mich jedoch wichtige Aspekte, auf die uns die F-Words noch einmal sehr eindrücklich hingewiesen haben.

Liebe Elisabeth, wie sieht für dich das Bobath-Konzept in der Zukunft aus?

In Zusammenarbeit mit vielen engagierten Lehrtherapeuten/innen durfte ich in den letzten 20 Jahren die Entwicklung des Bobath-Konzeptes hin zu einem familien-, alltags- und wissenschaftsorientierten Konzept erleben und mitgestalten.

Wie von Berta und Karel Bobath bereits vorausgesehen, musste sich das Konzept immer wieder an neue wissenschaftliche Erkenntnisse anpassen und neues Wissen integrieren, ohne die Grundideen der Bobath-Therapie zu verlieren. Am deutlichsten spiegelt sich dieser Anpassungsprozess in unserem gemeinsam erarbeiteten Curriculum wider, welches über die Jahre immer wieder verändert und ergänzt wurde. In der Neugründung unseres Vereins Bobath-Zukunft! e.V. zeigt sich das Engagement vieler Lehrtherapeuten/innen, die sich in den letzten Jahren für die Modernisierung und Aktualisierung des Konzeptes eingesetzt haben.

Die starke Nachfrage in unseren Kursen und das große Engagement der Kursteilnehmer zeigt mir, dass die Vermittlung eines umfangreichen Wissens, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis immer noch einen großen Wert für Therapeuten in Frühförderstellen, Behinderteneinrichtungen, Kliniken und Praxen zu haben scheint. Zum Wohle der Kinder und Familien hoffe ich sehr, dass die Grundgedanken des Bobath-Konzeptes in unserer von Technik und Funktionalität bestimmten Therapiewelt auch künftig Bestand haben und nicht verloren gehen.