Kolumne Nr 33
Kolumne 33 / 1 2022
Von Petra Marsico
Physiotherapeutin und Doktorandin, Kinder Reha Schweiz, Kinderspital Zürich, Studienleiterin SAKENT | ASEND
Ziel des Wissenstransfers ist die Integration der neusten Erkenntnisse aus der klinischen Forschung in die Praxis. Mit einher geht das Hinterfragen von Massnahmen, welche schon lange zu unserem Repertoire gehören. Ein Thema, das uns häufig beschäftigt, ist das Vorbeugen oder Behandeln von Bewegungseinschränkungen und eine der wohl am weitesten verbreiteten Massnahmen: das Dehnen. Das Ziel dieser Kolumne ist es, euch die aktuellen Grundlagen zum Dehnen aufzuzeigen und der Frage nachzugehen, ob Dehnen eine evidenzbasierte Intervention ist und welche Alternativen vorhanden sind.
Dehnungen sollen zu einer Zunahme von Muskellänge führen. Prophylaktisch ist das nicht möglich, es kann erst bei bereits bestehenden Bewegungseinschränkungen angewendet werden. Die zugrunde liegende Annahme ist, dass durch Lagerung des Muskels in einer verlängerten Position, die Anzahl der Sarkomere zunimmt. Um diesen physiologischen Effekt zu erzielen, müssen Muskelgruppen länger als sechs Stunden in einer Dehnposition fixiert werden1,2 Dies wurde anhand eines Tiermodelles untersucht. Bei Menschen gibt es keine Studien, welche den Effekt des Dehnens auf die Muskelstruktur untersuchen.
Studien aus der Sportwissenschaft zeigten, dass statisches Dehnen länger als 90 Sekunden (3x 30 Sekunden) die Performanz der sportlichen Aktivität negativ beeinflusst.3 Dies führte dazu, dass Dehnen vor sportlicher Aktivität nicht mehr eingesetzt wird, oder durch dynamisches Dehnen ersetzt wurde. Hier ist wichtig zu erwähnen, dass die Sportler*innen diese Dehnungen selbständig, also aktiv ausführen können. Dies trifft bei den Kindern, die zu uns in die Therapie kommen, oft nicht zu trifft. Aktiv geht man nie so weit in eine Dehnung hinein, wie eine andere Person passiv machen könnte. Ein wesentlicher Bestandteil des aktiven Dehnens ist die ständige Muskelaktivierung, diese fällt bei einer passiven Ausführung weg.3
Aktivität und Bewegung sorgen dafür, dass das Zielgewebe (neben der Muskulatur auch Sehnen, Nerven, und Bindegewebe) anpassungsfähig bleiben. Aktuelle Studien zeigten, dass kontrakte Hamstrings bei Kindern mit spastischer Zerebralparese eine steifere extrazelluläre Matrix, mit einer Zunahme des Kollagens und verlängerte Sarkomere aufwiesen. Dieser Mechanismus erhöht die passive Spannung der Muskulatur
und zeigt auf, dass die Muskeln von Kinder mit Zereberalparese unter grossem mechanischen Stress (Krafteinwirkung) stehen. 4 Dieser mechanische Stress könnte eine Folge der Unfähigkeit der Muskeln sein, sich mittels Bildung von seriellen Sarkomeren der wachstumsbedingten Dehnung, anzupassen. 5
Die Sarkomere sind demnach nicht kürzer, jedoch in geringerer Zahl vorhanden. Diese neuen Erkenntnisse haben zur Folge, dass die Idee des Muskeldehnens überdenkt werden muss. Passives Dehnen ist von Natur aus eine „passive“ Technik, die ohne Beteiligung des Kindes durchgeführt wird. Isolierte Dehnungs- und Lagerungsübungen wie Bauchlage und Dehnung der Kniebeugesehnen im Langsitz machen dem Kind oder
der Familie auch nicht besonders viel Spaß. Eltern zögern zu Recht, traditionelle Dehnungsmethoden anzuwenden, da sie für ihre Kinder unangenehm sein können.6 Dies wird durch die fehlende Evidenz zurEffektivität von passivem Dehnen unterstützt.7 Zudem können statische Dehnpositionen zu einer Minderdurchblutung der Nerven und deren Schädigung führen, was wiederum die Muskulatur schwächt.8 Aus all den erwähnten Gründen empfehlen Wiart und Kollegen den Schwerpunkt auf das Erhaltenen der Flexibilität, Mobilität und der Bewegungsvariation zu legen.9 Ganz im Sinne eines Aktivitätenprogramms anstelle eines Dehnprogramms. Aktivitätenprogramm bedeutet, dass das Kind als aktiver Partner oder Partnerin dabei ist und die Übungen soweit möglich aktiv mitgestaltet. Dabei werden grosse Bewegungen mit vielen Wiederholungen im widerstandsfreien Bereich ausgeführt, es wird also gar nicht gedehnt. Bei den Mobilisationsübungen ist das Kind der Chef und führt diese selber aus, oder in Kooperation mit den Eltern und Therapeut*innen. Dieser aktive Approach passt ebenfalls zu den Ergebnissen, welche zeigten, dass ein exzentrische Muskelaktivierung, wie das Rückwärtslaufen, die Zunahme von Sarkomeren in den Gast-
rocenmii bewirken kann und durch diese Aktivität die Länge und die Mobilität positiv beeinflusst werden kann. 10
Was wendet ihr für Massnahmen an, um verkürzten Körperstrukturen entgegen zu wirken? Was haltet ihr von dynamischer Mobilisation zu sprechen anstelle von Dehnen oder Durchbewegen? Über Rückmeldungen und einen Austausch mit euch würde ich mich sehr freuen.
Quellenangaben
1. Coutinho, E. L., Gomes, A. R. S., França, C. N., Oishi, J. & Salvini, T. F. Effect of passive stretching on the
immobilized soleus muscle fiber morphology. Brazilian Journal of Medical and Biological Research 37,
(2004).
2. MCNeill, S. Management of Deformities. in Management of the Motor Disorders of Children with Cerebral
Palsy (eds. Scrutton, D., Damiano, D. & Mayston, M.) 130–146 (Mac Keith Press, 2006).
3. Behm, D. G. & Chaouachi, A. A review of the acute effects of static and dynamic stretching on performance.
European Journal of Applied Physiology 111, 2633–2651 (2011).
4. Smith, L. R., Lee, K. S., Ward, S. R., Chambers, H. G. & Lieber, R. L. Hamstring contractures in children
with spastic cerebral palsy result from a stiffer extracellular matrix and increased in vivo sarcomere length.
The Journal of physiology 589, 2625–39 (2011).
5. Smith, L. R. et al. Novel transcriptional profile in wrist muscles from cerebral palsy patients. BMC medical
genomics 2, (2009).
6. Hadden, K. L. & Von Baeyer, C. L. Pain in children with cerebral palsy: common triggers and expressive
behaviors. Pain 99, 281–288 (2002).
7. Pin, T., Dyke, P. & Chan, M. The effectiveness of passive stretching in children with cerebral palsy.
Developmental Medicine & Child Neurology 48, 855–862 (2007).
8. McHugh, M. P., Tallent, J. & Johnson, C. D. The role of neural tension in stretch-induced strength loss.
Journal of strength and conditioning research 27, 1327–1332 (2013).
9. Wiart, L., Darrah, J. & Kembhavi, G. Stretching with children with cerebral palsy: what do we know and
where are we going? Pediatric physical therapy : the official publication of the Section on Pediatrics of the
American Physical Therapy Association 20, 173–178 (2008).
10. Hösl, M., Böhm, H., Arampatzis, A., Keymer, A. & Döderlein, L. Contractile behavior of the medial
gastrocnemius in children with bilateral spastic cerebral palsy during forward, uphill and backward-downhill
gait. Clinical Biomechanics 36, 32–39 (2016).