Mit den Augen sprechen? Die „Handreichung Augensteuerung“ als Hilfestellung

Kolumne 28 / 1 2021
Von Eva Stephan Logopädin, Schule für Kinder und Jugendliche mit Körper- und Mehrfachbehinderungen, Zürich

Kinder mit schweren motorischen Beeinträchtigungen ohne Lautsprache benötigen Assistenz in allen Bereichen des Alltags inklusive Kommunikation und Spiel. Unter Umständen sind Augen- bewegungen die einzigen willkürlich kontrollierbaren Bewegungen 1. Analoge Kommunikations- hilfsmittel wie Blicktafeln oder -ordner können eine Hilfe sein, sind jedoch von der Interpretation des Gesprächspartners abhängig. Häufig nutzen Eltern einen Ja-Nein-Code von körpereigenen Zeichen und Gesichtsausdruck. Die Kommunikation mit wenig vertrauten Partnern ist selten er- folgreich. Eltern berichten über Frustration, wenn sie die Bedürfnisse ihrer Kinder nicht verstehen, z.B. ihr Weinen nicht deuten können. Borgestig, Rytterström & Hemmingsson haben in einer qualitativen Studie Eltern befragt, deren Kinder mit einem Kommunikationshilfsmittel mit Au- gensteuerung versorgt wurden. Die Eltern erlebten es als positiv, dass ihr Kind mehr Handlungs- fähigkeit zeigen konnte und sie seine Bedürfnisse besser verstanden. Sie schätzten, dass ihr Kind den eigenen Willen ausdrücken oder sich selbst mit Spielen und Musik beschäftigen konnte 2. Eine Langzeitstudie zeigte, dass sich alle Probanden (Kinder mit schweren motorischen und kom- munikativen Beeinträchtigungen) über einen Zeitraum von 20 Monaten in Bezug auf Geschwin- digkeit und Genauigkeit verbessern konnten 1.

Der Nutzen eines Kommunikationshilfsmittels mit Augensteuerung ist unbestritten und weckt Hoffnungen. Damit diese nicht enttäuscht werden, müssen Voraussetzungen und mögliche Hin- dernisse geklärt werden. Grundsätzlich kann eine Augensteuerung auch bei eingeschränktem Seh- vermögen genutzt werden. Mindestens ein Auge muss kontrolliert bewegt sowie von der Kamera erkannt werden können. Der Nutzer muss erkennen, dass er mit dem Blick etwas bewirken kann. Das ist ein nicht unerheblicher Lernschritt, denn die ursprüngliche Funktion des Blickes ist die Wahrnehmung 4. Das Ursache-Wirkungs-Prinzip kann vom Nutzer mit einer Augensteuerung erlernt werden, bevor er sie zu kommunikativen Zwecken einsetzt. Leider setzen Kostenträger in der Schweiz bereits ein sehr hohes kommunikatives Niveau voraus, wenn es um die Bewilligung eines Gerätes mit Augensteuerung geht. Dadurch erhalten viele potenzielle Nutzer gar nicht die Möglichkeit, basale Erfahrungen mit einer Augensteuerung zu sammeln.

Als weitere wichtige Voraussetzungen nennen Holmqvist, Thunberg und Peny Dahlstrand den Faktor Zeit, das Know-how und die Zusammenarbeit des Umfeldes, sowie Möglichkeiten des Einsatzes und einen anregenden Inhalt 3. Wird die Anschaffung einer Augensteuerung erwogen, lohnt es sich, im Vorfeld die Voraussetzungen des Nutzers und seines Umfeldes zu klären. Einen wertvollen Leitfaden zur gemeinsamen Bedarfsanalyse, zur Klärung der Voraussetzungen sowie hilfreiche Anregungen für den Einstieg mit der Augensteuerung bietet die Handreichung Augensteuerung des Projekts EyeTrack4all der Alice Salomon Hochschule Berlin. Das Doku- ment ist gratis per Download verfügbar 4. Zur Evaluation der individuellen Fähigkeiten enthält das Dokument einen Beobachtungsbogen zum Seh- und Hörvermögen, dem Verstehen von Blick- aufgaben, der Aufmerksamkeit und der Positionierung des Gerätes. Die Beobachtungskriterien machen deutlich, dass die Anschaffung einer Augensteuerung eine interdisziplinäre Angelegen- heit sein muss – weswegen sich der Blick ins Dokument nicht nur für Logopädinnen lohnt.

Quellenangaben

  1. Borgestig, M., Sandqvist, J., Parsons, R., Falkmer, T., Hemmingsson, H. (2016). Eye gaze performance for chil- dren with severe physical impairments using gaze-based assistive technology—A longitudinal study. Assistive Technology, 28, (2), 93-102.
  2. Borgestig, M., Rytterström, P. Hemmingsson, H. (2017). Gaze-based assistive technology used in daily life by children with severe physical impairments – parents’ experiences. Developmental Neurorehabilitation, 20 (5), 301-308.
  3. Holmqvist, E., Thunberg, G., & Peny Dahlstrand, M. (2017). Gaze-controlled communication technology for children with severe multiple disabilities: Parents and professionals’ perception of gains, obstacles and prerequi- sites. Assistive Technology: From Research to Practice. Published online. doi.org/10.1080/10400435.2017.1307882
  4. Handreichung Augensteuerung (2016). Hilfestellung für Vorüberlegungen, Planung und Einsatz einer Augen- steuerung in der Unterstützten Kommunikation. Retrieved June, 14, 2021 from https://opus4.kobv.de/opus4- ash/frontdoor/index/index/docId/133