Mit dem roten Faden weben wir gemeinsam… Kommunikation ist Co-Konstruktion
Kolumne 26 / 1 2021
Von Eva Stephan Logopädin, Schule für Kinder und Jugendliche mit Körper- und Mehrfachbehinderungen, Zürich
Der Begriff Kommunikation von lat. „comunicare“ („mitteilen“, „gemeinsam machen“) beschreibt eine soziale Handlung zwischen zwei oder mehreren Kommunikationspartnern. Beide Gesprächspartner müssen dazu beitragen, dass die Kommunikation gelingt und aufrechterhalten wird. Beide sind dafür verantwortlich, inhaltliche und sprachliche Diskrepanzen aufzulösen. Kommunikation ist Co-Konstruktion – it takes two to talk. Blechschmidt beschreibt Kommunikation im gelungenen Fall als „ein gemeinsam bestimmtes System von Zeichen, welches von den Gesprächsteilnehmenden sowohl produziert als auch verstanden wird.“ (Blechschmidt, 2016, S.19)
Kommunikative Konventionen werden bereits beim nicht-sprechenden Säugling eingehalten. Die Bezugsperson wartet den «Gesprächsbeitrag» des Säuglings ab. Er wird als Kommunikationspartner betrachtet, der «Handlungsbeiträge» einbringen kann. Diese Zuschreibung von kommunikativer Kompetenz beginnt bereits wenige Tage nach der Geburt. Mehr noch: Die Bezugsperson gibt den «Äusserungen» eine Bedeutung. Durch diese Bedeutungszuschreibung unterstützt die Bezugsperson das Kind in seiner Ich-Entwicklung: Das Kind kann in dem von der Bezugsperson gesteckten Interaktionsrahmen richtig reagieren. Die erwachsene Bezugsperson übernimmt selbstverständlich und intuitiv die Führung in der Kommunikation.
Handelt es sich beim Gesprächspartner um ein Kind oder einen Jugendlichen ohne Lautsprache und schwerer mehrfacher Behinderung, sind Bezugspersonen oft nicht mehr bereit, den Vertrauensvorschuss in die kommunikativen Kompetenzen zu gewähren. Der UK-Nutzer soll ohne Hilfe, spontan und unabhängig von unserer Deutung seine Aussagen machen. Da UK-Nutzer mit schwerer motorischer Beeinträchtigung oft nur über wenige individuelle kommunikative Zeichen verfügen, sind sie auf die Interpretation des Gegenübers angewiesen. Eine wirksame Kommunikation ist möglich mit vertrauten Partnern, weil diese die kommunikativen Zeichen richtig interpretieren können (vgl. Communication Function Classification System, Level III und Level IV). Funktioniert die Kommunikation nicht – und diese Situation kennen Bezugspersonen gut – ist das frustrierend. Der Wunsch nach einem partner-unabhängigen Kommunikationssystem ist verständlich.
Doch wir tun dem UK-Nutzer unrecht, wenn wir unseren Beitrag zum Gelingen der Kommunikation ausblenden. Denn damit der UK-Nutzer sein Potenzial entfalten kann, braucht er Gesprächspartner, die ihm Potenzial zutrauen, ihn fordern und ermutigen. Alfaré (2016) konnte eindrücklich nachweisen, dass unsere Aktivitäten und Angebote als unterstützende Interaktionspartner dafür verantwortlich sind, wie der UK-Nutzer lernt, mit Sprache zu handeln. Die Schlussfolgerung ihrer Forschungsarbeit lautet: „Allein das Verhalten der helfenden
Interaktionspartner/innen entscheidet (…), welche Bereiche sprachlicher und kommunikativer Handlungen erworben werden und sogar in welcher Differenzierung“ (Alfaré, 2016, S.19). Sie verweist auf eine Einzelfallstudie von Emerson und Dearden (nach Alfaré, 2017) die die Bedeu-
tung des Vertrauensvorschusses illustriert: Das Umfeld eines jungen UK-Nutzers schätzte seine kognitiven Fähigkeiten aufgrund seiner fehlenden Verwendung von Lautsprache und Piktogrammen gering ein. Dementsprechend wurde die Förderung mit einem Minimal-Wortschatz gestaltet.
Für die Studie wurde die ‘least dangerous assumption’ (vgl. Donnellan, 1984) getroffen, dass eine sprachlich-kommunikative Fähigkeit vorhanden sei und die Ursache für die kommunikative Beeinträchtigung nicht oder nicht hauptsächlich in der kognitiven Beeinträchtigung liege. Das Umfeld bot ihm aufgrund dieses Paradigmas mehr Wortschatz mit verschiedenen kommunikativen Funktionen an. Nach 20 Monaten Intervention konnte der Junge seine Fähigkeiten erheblich erweitern. Es wurde deutlich, dass durch den Vertrauensvorschuss in die Fähigkeiten des Jungen und eine konkrete Veränderung im Verhalten des Kommunikationspartners neue Handlungsmög-
lichkeiten eröffnet wurden.
Die ‘least dangerous assumption’ besagt, dass wir unser therapeutisches Handeln in Abwesenheit sicherer Schlussfolgerungen darauf ausrichten sollen, dass es sich– sollten unsere Schlussfolgerungen nicht korrekt sein – am wenigsten schädlich auf die Autonomie und Selbständigkeit des Menschen mit Behinderung auswirkt. In der Unterstützen Kommunikation bedeutet dies, einen Vertrauensvorschuss in die kommunikativen Fähigkeiten des UK-Nutzers zu gewähren und unserer Rolle als Co-Konstrukteur in der Kommunikation bewusst zu sein.
Quellenangaben
Alfare, A. (2016). Nicht Beeinträchtigungen behindern den Spracherwerb, sondern das kommunikative Gegenüber. Fachzeitschrift der Gesellschaft für Unterstützte Kommunikation, (1), 21, 12-21.
Alfaré, A. (2017). Das Dilemma der Diagnostik in der UK bei Menschen mit komplexen Behinderungen und der Nutzen eines Interaktionistisch-systemischen Paradigmas. Inklusive Medizin 14 (2), 19-27.
Blechschmidt, A. (2016). Ko-Konstruktionen als Strategien des Verstehens-Managements. UK & Forschung 7, 18-30. Communication Function Classification System, retrieved February 8, 2021 from http://cfcs.us/wp-content/up-loads/2018/11/CFCS_German.pdf
Donnellan, A. (1984). The criterion of the least dangerous assumption. Behavioral Disorders 9, 141-150