Schaukelbrett und Gleichgewicht?
Von Monika Kunst, Physiotherapeutin und Bobath Lehrtherapeutin Bobath Kurszentrum München, Mitglied Bobath Zukunft! e.V., Lehrende der Neuropädiatrie
Vor 20 Jahren noch war das Schaukelbrett, ein Brett mit halbrunden Kufen an der Unterseite, als Trainingsgerät für das Gleichgewicht groß in Mode. Patient*innen mit orthopädischen, chirurgischen und neurologischen Diagnosen nutzten in der physiotherapeutischen Praxis das Schaukelbrett, um ihr „Gleichgewicht“ zu verbessern.
Im Münchner Bobath-Kurszentrum haben wir uns seit einigen Jahren sowohl vom Schaukelbrett als auch von dem Begriff „Gleichgewicht“ in Zusammenhang mit der Kontrolle der Körperhaltung verabschiedet. Das Wort Gleichgewicht verbindet sich im Deutschen allzu schnell mit dem dazu gehörigen Organ, dem „Gleichgewichtsorgan“ (Vestibulum). Dieses stellt in dem Kontrollvorgang von Haltung und Bewegung aber nur einen kleinen Teilbereich dar. (Barth 2005, S.185)
Das Ausbalancieren des Körpers in verschiedenen Positionen und in Bewegung erfordert ein hochkomplexes Zusammenspiel von neurogenen, muskulo-skelettalen und sensiblen Komponenten. Diese Fähigkeit bezeichnen wir als Haltungskontrolle (eng.: Postural Control). Die Förderung der Haltungskontrolle stellt einen Schwerpunkt unserer therapeutischen Arbeit dar. Eine verminderte Haltungskontrolle hat weitreichende Folgen für den Menschen in seinem Lebensumfeld. Sie wird in der Auseinandersetzung mit dem Umfeld genützt, um die Aktivitäten des täglichen Lebens (z.B.Manipulation, Aufmerksamkeit, Lokomotion, Orientierung) zu ermöglichen. (Hadders-Algra 2008, S.3)
Haltungskontrolle beinhaltet zwei Komponenten
- die Fähigkeit, Positionen zu stabilisieren (z.B. Sitz oder Stand) und bei Störungen von außen Stand zu halten (posturale Stabilität).
- eine angepasste Stabilität in jeder Aktivität (z.B. Gehen) durch die abgestimmte Ausrichtung der Körperabschnitte zueinander und des Körpers zur Umwelt (posturale Orientierung).
Jede Aktivität hat die Komponenten Stabilität und Orientierung, die Anforderung an beide Komponenten variiert je nach Aufgabe und Umfeld. (Shumway-Cook und Woollacott 2017, S 154)
Daraus ergibt sich die Erkenntnis, dass jede Aktivität ganz spezielle Anforderungen an die Haltungskontrolle stellt. Es gibt nicht „die Haltungskontrolle“, die wir bei jedem Patienten auf dieselbe Weise trainieren können. Vielmehr benötigen wir zur Verbesserung der Haltungskontrolle einen aufgabenorientierten Ansatz, bei dem genau die Aktivitäten im Fokus stehen, die verbessert oder ermöglicht, werden sollen (Huber 2014, S.5 )
Ist es beispielsweise mein therapeutisches Ziel, die Spielmöglichkeiten eines Kindes im freien Stand zu erweitern, so ist das Training der Haltungskontrolle für dieses Ziel auch nur im freien Stand sinnvoll. Das Kind kann so Erfahrungen mit der Kontrolle der Haltung im Stand sammeln. Diese Erfahrungen ermöglichen eine vorausschauende (antizipierende) Anpassung der Haltung, eine zunehmende Verfeinerung und Ökonomisierung der Haltungsanpassung, und somit auch eine Erweiterung der Fähigkeiten.
Warum also nutzen wir im Münchner Bobath-Kurszentrum das Schaukelbrett nicht mehr, um die Kontrolle der Haltung zu verbessern?
Die geforderten Fähigkeiten auf dem Schaukelbrett sind überwiegend reaktiver Natur. Es kommt zu einer fallverhindernden Aktivität der dorsalen bzw. ventralen Muskulatur, um den Körper im Lot zu halten. Ein Training der posturalen Orientierung und der antizipierenden (vorausschauenden) Haltungsanpassung in Bezug auf eine Aktivität erreichen wir kaum. Auch ein Übertrag in den Alltag des Patienten findet nicht statt, da die Voraussetzungen für die Haltungskontrolle (vor und zurückschwingender Untergrund) im Alltag nicht nutzbar sind.
Unter diesen Gesichtspunkten betrachtet ist der Gebrauch des Schaukelbrettes zur Förderung der Haltungskontrolle in Alltagssituationen nicht zu empfehlen.
Quellenangaben
1)Anne Shumway-Cook und Marjorie H.Woollacott, Motor Control Translating Research into Clinical Practise, Wolters Kluwer Verlag, 2017
2) Mijna Hadders-Algra, Eva Brogren Carlberg, Postural Control: a key issue in developmental disorders, Mac Keith Press 2008
3) Bewegungsentwicklung und Bewegungskontrolle. Das neue Denkmodell in der Physiotherapie, Antje Hüter-Becker (Hrsg).Cornelia Barth, Posturale Kontrolle, S. 177-244. Thieme Verlag 2005
5) Martin Huber, Posturale Kontrolle, PT Zeitschrift für Physiotherapeuten_66, Pflaum Verlag 2014